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/ Mai 2022

Bestand heißt nicht Stillstand

Die Zukunft der Stadtwirtschaft aus Sicht von Bestandshaltern

Wenn es um die Zukunft der Städte geht, werden vor allem Projektentwickler, Architekten und Fachleute aus der Stadtplanung gefragt. Aber seien wir mal ehrlich: So dringend wir Neubau benötigen, ein Großteil der Menschen wird auch in den kommenden Jahrzehnten in Gebäuden wohnen, die jetzt schon stehen. Deshalb darf eine realistische Debatte zur Stadtwirtschaft von morgen nicht allein auf Pläne und Pilotprojekte fokussieren, sondern muss auch fragen, was mit Bestandsbauten passiert.

Können – und sollten – Bestandshalter einfach so weitermachen wie bisher? Müssen – und wollen – wir alle Altbauten abreißen und neuer, besser, smarter bauen? Haben Bestandshalter zu Zukunftsthemen wie neuartigen Wohnformen, Klimaanpassung oder Mobilität überhaupt etwas beizutragen?

„Die Stadtwirtschaft von morgen“ – eine Studie (nicht nur) für Darmstadt

Im Auftrag der HEAG Holding AG, in der die Stadt Darmstadt ihre wirtschaftlichen Aktivitäten und Beteiligungen bündelt, hat das Zukunftsinstitut eine Studie zur Stadtwirtschaft von morgen erstellt (Download der kompletten Studie). Darin werden nicht nur Trends und Prognosen bis zum Jahr 2040 analysiert und interessante Pilotprojekte vorgestellt: Wichtiger ist, dass sie sich konkret damit auseinandersetzt, wie eine deutsche Großstadt – selbstverständlich am Beispiel Darmstadt, aber die Ergebnisse lassen sich leicht übertragen – ihre Stadtwirtschaft, wie sie heute ist, zukunftsfest machen kann. Es geht also nicht darum, wie Saudi-Arabien eine futuristische Stadt in die Wüste zu pflanzen oder am Reißbrett optimierte Stadtviertel zu entwerfen, sondern darum, mit dem Gebäudebestand so nachhaltig und zukunftsorientiert wie möglich zu wirtschaften.
Denn die Herausforderungen, die uns in den kommenden zwei Jahrzehnten bevorstehen, sind zu groß und zu drängend, um ihre Lösungen ins Reich der Science-Fiction zu verschieben. Die Urbanisierung nimmt weiter zu, immer mehr Menschen ziehen in die Großstädte des Landes, obwohl dort ohnehin schon Wohnungsmangel herrscht. Moderne Lebensentwürfe und Familienmodelle passen nicht mehr nahtlos in alte Wohnformen, und auch Immobilien müssen sozusagen „beweglich“, also anpassbar werden, um den wachsenden Ansprüchen an Flexibilität zu entsprechen. Und über all dem schwebt das Damoklesschwert des Klimawandels, dem wir auf zwei Arten begegnen müssen: Indem wir mehr auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz achten, um Schlimmeres zu verhindern, und indem wir unsere Lebensweise an die Veränderungen anpassen, die bereits nicht mehr aufzuhalten sind. Diese Megatrends wirken sich offensichtlich auf die Immobilienbranche und insbesondere auf Wohnimmobilien aus.


Klimaschutz im Bestand – mehr als nur Fassaden(-dämmung)


Was das Angebot und die Gestaltung von Wohnraum betrifft, ist das offensichtlich, doch auch beim Klima- und Umweltschutz sind Immobilieninvestoren und -entwickler gefragt. Knapp dreißig Prozent des Endenergieverbrauchs in Deutschland entfallen gemäß Umweltbundesamt auf die Haushalte, und der größte Teil davon (etwa 70 %) ist Heizenergie. Wie viel CO2 dafür ausgestoßen wird, Wohnräume auf eine angenehme Temperatur zu bringen, hängt von zwei Faktoren ab: woher die Wärme kommt und wie gut ein Gebäude isoliert ist.
Für Neubauten gibt es immer strengere Vorschriften zur Dämmung, aber die energetische Sanierung von Bestandsgebäuden ist in den vergangenen Jahren eher zurückgegangen – kein gutes Zeichen für den offiziellen Plan, Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen. Doch die Zurückhaltung der Immobilieneigentümer ist verständlich. Energetische Sanierungen sind teuer, aufwendig und bei Mietern unbeliebt.

Immerhin wurden die verschiedenen Fördermaßnahmen für energieeffiziente Gebäude inzwischen in einer Bundesförderung, der BEG, zusammengelegt. Doch der Fokus auf die Fassadendämmung verstellt den Blick auf andere Maßnahmen, die oft einfacher umzusetzen sind – und für welche die BEG teilweise ebenfalls Fördermittel und -kredite bereithält. Ein bisschen Recherche lohnt sich hierbei. Die Studie weist auf ein Pilotprojekt hin, bei dem ein Einfamilienhaus aus den 1980er-Jahren sogar zu einem Plusenergiehaus umgebaut werden konnte, und zwar zu marktfähigen Preisen. Das wird nicht mit jedem Gebäudetyp klappen, aber einzelne Maßnahmen lassen sich auch auf Mehrfamilienhäuser übertragen. Zudem gibt es auch den – oft vergessenen – Hebel der Energiequelle: Solarthermie auf dem Dach oder Erdwärme im Keller können Wasser und Räume mit minimalem CO2-Ausstoß erwärmen. Fassaden und Dächer nicht nur zu isolieren, sondern auch zu begrünen, kann sogar mehrfachen Nutzen haben: Die Häuser sind wärmer im Winter, kühler im Sommer, verbessern das Mikroklima, tragen zur Gesundheit der Bewohner bei und helfen Städten, Regenwasser aufzunehmen – ein Thema, das wegen des Klimawandels zunehmende Bedeutung erlangen wird.

Flexibler Wohnraum – alles außer unbeweglich

Das Thema Wohnraummangel beschäftigt die Immobilienwirtschaft ohnehin. In den meisten deutschen Städten wird sich der Bedarf noch erhöhen: Schon seit Jahren ziehen immer mehr Menschen in die Städte, bis 2040 werden voraussichtlich weit mehr als 80 Prozent der Deutschen urban wohnen. Zugleich steigen die Ansprüche – einerseits an den Wohnraum pro Kopf, andererseits an die Flexibilität der Nutzung. Neubauten richten sich immer stärker darauf aus. Doch das heißt nicht, dass Bestandshalter hierbei außen vor sind, im Gegenteil. Gerade wer größere Immobilienportfolios in wachsenden Städten hält, kann damit einiges bewegen – wenn er selbst flexibel ist.
Auch Altbauten können schließlich mit wenig Aufwand an neue Nutzungsarten angepasst werden, die oft mehrere Probleme gleichzeitig lösen: Co-Working-Spaces in Wohnvierteln verkürzen Arbeitswege, machen die Büroausstattung und -nutzung effizienter und sparen, weil sie eigene Arbeitszimmer unnötig machen, Wohnraumflächen und Heizkosten. Das Prinzip lässt sich auch auf andere Gemeinschaftsräume ausweiten, von der Gästewohnung über den Fahrradkeller mit gemeinsam genutzter Werkstatt bis zum Hausgarten im Innenhof. Viele Mieter haben zudem eigene Ideen, denen Vermieter offener begegnen sollten. Das Prinzip WG ist zum Beispiel längst nicht mehr nur für Studierende interessant – verbunden mit Mehrgenerationen-Wohnen wird es zum innovativen Konzept, für das es in vielen Bestandsbauten nicht mehr als ein paar klug verfasste Verträge braucht.

Wer bereit und in der Lage ist, mehr zu investieren, kann mit einer Maßnahme gleich mehreren dieser Trends begegnen. Nachverdichtung, insbesondere durch flächeneffiziente Lückenbebauung und durch Dachaufstockungen, kann die Vorteile von Neu- und Bestandsbau kombinieren. Der zusätzliche Flächenverbrauch ist minimal, ein neues Stockwerk kann von vornherein so gebaut werden, dass es das ganze Haus von oben besser dämmt und womöglich gleich noch eine Solaranlage oder Dachbegrünung mitbringt, die neuen Grundrisse können flexibel entworfen werden. Das Zukunftsinstitut weist hierbei gleich auf eine ganze Reihe erfolgreicher Projekte hin, vom Minimum-Impact-Prototyp zur Umnutzung und Neugestaltung.

Veränderung als Konstante


Unsere Städte verändern sich – ebenso wie die Ansprüche, die an sie gestellt werden. Mehr Menschen werden durch eine schonendere Ressourcennutzung in einem Klima im Wandel länger und gesünder leben und dabei ihren Lebensstandard halten wollen, während die Grenzen zwischen Wohnen und Arbeiten, Beruf und Freizeit, öffentlich und privat zunehmend verschwimmen. Stadtverwaltungen bereiten sich darauf vor, Projektentwickler und Architekten entwickeln innovative Lösungen. Bestandshalter müssen dabei keinesfalls hinter der Kulisse bleiben und untätig zuschauen, im Gegenteil. Auch in Zukunft werden sie den meisten Wohnraum stellen. Wenn sie die Stadtwirtschaft aktiv mitgestalten wollen, haben sie mehr Hebel dazu in der Hand, als viele denken. Alles, was es braucht, sind die Dialogbereitschaft, das Denken ohne Schubladen und die Erkenntnis: Das Beständigste im Leben ist die Veränderung. Die HEAG-Studie gibt interessante Anstöße. Was wir daraus machen, ist uns überlassen – Hauptsache, wir stehen nicht still.